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Wofür wir es tun

Eine diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin hat ihre Erlebnisse in verschiedenen Pflegeeinrichtungen und Kliniken niedergeschrieben. Es sind bewegende Zeilen.

Wir haben Schauspielerin Claudia Marold gebeten den Text zu sprechen. 16 emotionale Minuten. Unbedingt anhören!

 

Ein Tag im Pflegeheim beinhaltet, dass einem eine Bewohnerin ganz aufgebracht erzählt, wie garstig die „Schwester“ von gestern doch war – und man weiß ja, die „Schwester“ von gestern war ebenfalls ich – und man trotzdem aufmerksam und einfühlsam zuhört: „Wirklich? Na sowas!“

Er beinhaltet, dass zwei Bewohnerinnen sich auf der Bank im Gang des Pflegeheims niederlassen, um dort gemeinsam auf den Autobus zu warten und zu schimpfen, dass er nach einer Stunde immer noch nicht vorbeigekommen ist.

Er beinhaltet, dass eine Kollegin einen Batzen Stuhl eines Bewohners beim Säubern auf den Fuß bekommt und keiner sich mehr halten kann vor Lachen.

Er beinhaltet, von Angehörigen angepöbelt zu werden, weil deren demente Mama zum wiederholten Male behauptet, sie werde nicht gewaschen oder bekomme nichts zu essen – was natürlich nicht der Wahrheit entspricht. Ich verstehe die Angehörigen, nach allem was man immer wieder in den Medien über Vernachlässigungen in Pflegeheimen hört.

Man macht Nachtdienste allein auf der Station mit 36 Pflegebedürftigen. SECHSUNDDREISSIG Menschen von denen 30 – manche mehr, manche weniger – auf unsere Hilfe angewiesen sind. Die also in der Nacht nicht allein aufs WC gehen können und entweder begleitet oder gewickelt werden müssen, die nicht in der Lage sind, sich allein im Bett zu drehen oder sich selbst zu trinken zu nehmen, wenn sie durstig sind. Die meisten davon leiden an variierenden Stufen der Demenz, sind sturzgefährdet oder aggressiv.

Eine sterbende Bewohnerin, 80 Jahre alt. Sie schreit nach ihrer Mama, immer wieder. Ich setze mich zu ihr, nehme ihre Hand, halte sie. Die Dame ist beruhigt, hält meine Hand fest, sagt „Mama“ und stirbt.

Ein Tag auf der Neonatologie beinhaltet, einen Anruf, dass eine Schwangere in der 27. Schwangerschaftswoche – also ganze 13 Wochen zu früh – mit Wehen und Blasensprung kommt. Alle laufen zur Reanimationsstation für die Säuglinge, bereiten alles vor. Kurze Zeit später ist das Baby da, wird von der Kinderärztin hereingetragen und unter die Wärmelampe gelegt. Man erwartet ein lebloses Bündel, aber da liegt ein winziger, schreiender Babybub, der Kopf kaum so groß wie eine Mandarine. Kurze Zeit später ist das Intensivteam da und übernimmt den Kleinen. Er überlebt.

Er beinhaltet ein Baby, das wegen einer Infektion zu uns kommt. Die Mutter ist 19, es ist das zweite Kind. Das erste lebt bei der Familie des Vaters. Die Mutter wirkt überfordert und ist eindeutig aus einer sozial schwachen Schicht. Sie stillt ihren Sohn, kommt dazu alle paar Stunden auf die Neonatologie, ansonsten ist das Kind bei uns. Sie wundert sich, warum der Kleine immer nach dem Stillen erbricht. Nach einem Gespräch stellt sich heraus, dass sie immer vor dem Stillen Rauchen geht.

Ein Baby kommt aufgrund sozialer Indikation auf die Neonatologie. Die Mutter ist drogenabhängig und obdachlos, der Vater amtsbekannt und beide sind psychisch labil. Das Baby ist auf Entzug, seit es auf der Welt ist. Es schreit vor Schmerzen, zittert, schwitzt und möchte kaum trinken.

Eines Tages steht der Vater brüllend und tobend vor der Tür und verlangt sein Kind. Der Sicherheitsdienst im Krankenhaus sieht keinen Anlass, zu Hilfe zu kommen. Zwei Pflegepersonen führen ein Gespräch mit dem Vater, woraufhin er die Station verlässt – ohne, dass jemand zu Schaden kommt. Die Mutter verschwindet in der nächsten Nacht aus dem Krankenhaus. Das Kind wird dem Jugendamt übergeben.

Ein Frühchen wird geboren, es ist das 10. Kind der Familie. Die Mutter riecht nach Zigaretten, der Vater nach Alkohol. Die Familie ist dem Jugendamt bekannt.

Ein Frühchen wird geboren, es ist das 1. Kind einer 45-jährigen Frau. Die Mutter ist ununterbrochen bei ihrem Kind, Tag und Nacht und die Freude und Liebe des Paares ist spürbar.

Ein Kind wird geboren. Es ist das 3. Kind, ein ungeplanter Nachzügler. Das Baby ist eigentlich reif geboren, aber hatte Anpassungsschwierigkeiten bei der Geburt. Als wir Schwestern das Baby zum ersten Mal sehen, sagen wir sofort, dass das Kind „syndromig“ aussieht. Die Eltern sehen das nicht. Das Kind ist wunderschön für sie. Wenige Tage später nach dem Chromosomentest die Bestätigung. Das Baby hat Trisomie 21. Die Eltern scheinen sich wenig darüber aufzuregen. Vorsichtig fragen wir nach, ob sie bei Vorsorgeuntersuchungen waren und die Mutter sagt „bei der Nackenfaltenmessung nicht, denn es hätte für uns keinen Unterschied gemacht. Wir hätten ihn trotzdem bekommen“.

Ein Tag auf der Psychatrie beinhaltet, einen tobenden Patienten, der von Polizisten gebracht wird, mit Handschellen. Ein suchtkranker Mensch, der eine Gefahr für seine Mitmenschen und sich selbst dargestellt hat, und daher zu seiner und der Sicherheit anderer in einer Psychatrie betreut werden muss. Die Polizistin, die seine Handschellen aufsperren soll, damit er ordnungsgemäß fixiert werden kann, ist so nervös, dass sie den Schlüssel im Schloss abbricht. Die Feuerwehr muss gerufen werden. Währenddessen halten zehn Ärzte, Polizisten und Pflegepersonen den tobenden, schimpfenden, schreienden, aggressiven Menschen fest.

Eine Patientin, übersät mit Ungeziefer, die man duschen muss, weil sie es selbst nicht tut.

Ein Patient, der schreiend und urinierend aus seinem Zimmer kommt, der alles anpinkelt, weil er entlassen werden möchte, aber lt. Gesetz untergebracht ist und somit nicht entlassen werden darf, ohne dass ein Arzt feststellt, dass derjenige keine Gefahr mehr für sich selbst oder andere darstellt.

Ein anderer tobender Patient, der von mehreren WEGA-Beamten gebracht wird, die den Patienten quasi an der Türschwelle abstellen und wieder gehen wollen, bevor der Patient fixiert werden kann.

Patienten, die einen anschreien, weil sie keine Zigaretten mehr haben, während man dasitzt, um ihnen Zigaretten zu drehen.

Ein Tag im Krankenhaus beinhaltet, Patientin mit frischem Schlaganfall, Mitte 40, hat zum Glück fast keine Symptome, Arzt hält es nicht für notwendig die Patientin auf eine spezialisierte Station zu verlegen. Sie soll Flüssigkeit bekommen. Nach Intervention einer Pflegeperson und eines anderen Arztes wird sie schlussendlich auf eine Stroke Unit verlegt, wo sie adäquat versorgt werden kann.

Patient kommt mit Kopf- und Nackenschmerzen seit einer Woche. Blutbild auffällig, klinische Untersuchung auffällig. Nach Liquorentnahme – also Flüssigkeit aus dem Spinalkanal – die Bestätigung: Patient hat eine bakterielle Meningitis. Pflegepersonal erhält Einmalgabe Antibiotikum. Bei Symptomen bitte melden.

Patientin kommt mit Husten, spricht nur Russisch, also Kommunikation ziemlich erschwert bis sich eine Ärztin findet, die übersetzen kann. Patientin wird stationär aufgenommen im 4-Bett-Zimmer. Später die Diagnose: Patientin hat eine offene Tuberkulose. Pflegepersonal wird zum Röntgen geschickt. Bei Symptomen bitte melden.

Patientin kommt mit Verschlechterung des Allgemeinzustands und Bauchschmerzen. Auffälliger Befund bei Gastroskopie, nach dem Abdomen-CT dann die Diagnose: kindskopfgroßer Tumor, drückt auf innere Organe. Patientin wird von Kollegen als unfreundlich und grantig beschrieben, die weitere Untersuchungen und Behandlungen ablehnt. Patientin weint bei der Abendrunde in ihrem Zimmer und bedankt sich, nachdem ihr ein paar Minuten zugehört wurde.

Patient wird von der Rettung in die Ambulanz geschoben, ist gräulich im Gesicht, ich sage noch zu meiner Kollegin „Der gefällt mir nicht“, aber es ist so viel los, dass es untergeht. Kurze Zeit später kollabiert der Mann im Warteraum und muss im Schockraum reanimiert werden. Er überlebt.

Patientin wird vom Portier mit Schnappatmung in die Ambulanz geschoben. „Wir haben sie so vor der Tür gefunden.“ Kollegin fängt sofort mit Reanimation an, Herzalarm wird ausgelöst, ich ziehe Adrenalin auf. Die Patientin kämpft tagelang auf der Intensivstation, aber sie überlebt nicht.

Patient ist Diabetiker und kommt in die Ambulanz, sagt, er habe da was am Zeh. Der Verband, den der Patient selbst angelegt hat, wird abgenommen. Der große Zeh, schwarz, fällt währenddessen ab. Patient ist mild erstaunt. „Oha“, ist seine Reaktion.

Ein Patient beschwert sich darüber, dass er seine Abendinfusion nicht um 20 Uhr erhalten hat, sondern erst um 21 Uhr. „Ich bekomme meine Infusion um 20 Uhr!“, sagt er erbost. „Ja … so wie alle anderen 30 Patienten auch“, antworte ich trocken. Der Mann überlegt kurz und sagt dann „Das geht sich ja gar nicht aus.“ Ich schnalze mit der Zunge und kann es mir nicht verkneifen: „Bingo!“

Es ist der erste Tag meines allerersten Praktikums in der Pflege. Patient kommt mit entzündeter OPWunde in die Ambulanz. Hatte vor einer Woche eine laparoskopische Blinddarmentfernung und nun ist eine der Wunden eben entzündet. Ich beuge mich über den Patienten und merke, wie mir beim Anblick der Wunde etwas übel und schwindelig wird. Der Arzt, der mit mir im Zimmer ist, sieht anscheinend, dass ich blass werde, denn er fährt den Patienten an: „Ja, stehen Sie auf, sehen Sie nicht, dass es der Schwester schlecht geht?!“ Und der Patient stand auf, und ich lag am Ende auf der Liege.

Patienten die läuten, weil das Fenster zu weit offen ist, das Fenster überhaupt offen ist, das Fenster zu ist, die Decke zu schwer ist, der Polster weiter in den Rücken geschoben gehört, die Marmelade die falsche ist, das WC rinnt, der Safe nicht funktioniert, der linke Socken ein bisschen nach oben gezogen gehört, der Fernseher nicht funktioniert, sie das Licht nicht ausschalten können, die Straßenbahn so laut ist, sie sagen wollen, dass die Infusion GLEICH fertig ist, eine demente Zimmernachbarin schreit, und weil sie wissen wollen, ob man vielleicht auch den Opernball schaut.

Man macht am 31.12. ganz allein einen Nachtdienst, weil die Kollegin, mit der man eigentlich Dienst gehabt hätte, sich kurzfristig krank meldet und man am Nachmittag vor Silvester natürlich keinen Ersatz mehr finden kann, und um Mitternacht ist man dann damit beschäftigt, neben einem pinkelndem Patienten am Klo zu stehen.

Man hat Turnusärzte, die eigentlich Entscheidungen treffen sollten, die einen anschauen und fragen: „Was würdest du dem geben?“ Natürlich tun sie das, sie werden so wie wir auch ins kalte Wasser gestoßen, sollen von heute auf morgen über Leben und Tod entscheiden und kriegen von oben eine am Deckel, wenn sie sich Hilfe suchen wollen. Also fragen sie uns! Auch Oberärzte und Primare, die einen fragen, welche Medikation man denn jetzt nehmen würde, oder die einen anschreien.

Um drei Uhr Früh am Samstag, wenn deine Freunde oder deine Familie gerade entweder feiern, oder im Idealfall in ihren Betten liegen und schlafen, sitzt du am Patientenbett und stichst entweder einer 75-Jährigen den 7. Venenzugang an diesem Tag, oder du entleerst gerade einen Katheterbeutel.

An unseren freien Tagen haben wir Angst vor jedem Anruf und jeder Nachricht, weil es immer bedeuten könnte, dass wir gefragt werden, ob wir einspringen können, weil jemand krank geworden ist. Weil wir immer am absoluten Minimum besetzt sind, und weil der sogenannte „Pflegeschlüssel“ ein Witz ist. Weil das ganze System auf unserem Retterkomplex und dem schlechten Gewissen, das wir unseren Kollegen gegenüber haben, basiert. Und weder Balkonklatschen noch mehr Gehalt können das besser machen. Kein Dienstplan, den wir übrigens oft erst 2 Wochen vor Monatsbeginn in den Händen halten, bleibt wie er am Papier steht. Wir sind wirklich am Limit.

Patienten, die einen behandeln wie Leibeigene, Patienten, die anzügliche Bemerkungen machen und masturbieren wenn man das Zimmer betritt, Patienten, die einen schlagen, kratzen und anspucken, Patienten, die einen abschätzig behandeln, so als wäre man dumm, Patienten, die weinen und Zuwendung benötigen.

Wir sind nicht nur Krankenpflegepersonen. Wir sind Lebensberatung, Hausverstand, Techniker, Ärzte, Ernährungsberatung, Putzfrau, Kummernummer und Mediatoren. Wir sind Schnittstelle, Sprachrohr und Ansprechperson für Patienten, Angehörige, Ärzte, Praktikanten, Rettungsdienste, andere Pflegedienste, Abteilungshilfen, Entlassungsmanagement. Wir waschen, putzen, verabreichen Medikation, nehmen Blut ab, müssen genug Wissen besitzen, um Befunde beurteilen zu können ohne das eigentlich zu dürfen, wechseln Verbände, räumen ein, um, her und auf, wechseln Müllsäcke, Bettwäsche, Inkontinenzversorgung und Batterien, sind Hol- und Bringdienst, OP-Assistenz, Physiotherapie und medizinisch-technische Assistenz.

Wir wünschen uns untereinander keinen „Schönen Tag“ oder „Guten Morgen“. Wenn wir uns in der Garderobe treffen, sagen wir „Ruhigen Dienst“ – denn das ist wirklich der beste Fall, den man sich wünschen kann.

Ich liebe meinen Beruf. Deswegen ist nicht alles gut. Deswegen bitte ich euch: Wenn ihr das nächste Mal eine gestresste Pflegeperson seht oder eine, die gerade einen Kaffee trinkt und scheinbar gerade „nichts tut“, bitte versucht nicht zu urteilen. Unser Beruf ist wirklich wie kein anderer. Uns beeindruckt nicht viel, das ist wahr und vielleicht wirken wir deswegen manchmal kalt und distanziert. Glaubt uns, wir wollen nur euer Bestes. Es war ein guter Dienst für uns, wenn wir bei der Dienstübergabe sagen können: „Alle leben noch!“