Überhitzte Stadt, übersehene Menschen
Wie gehen obdachlose Menschen mit der Hitze um?
Hedy und Sandra wissen es. Sie lebten selbst auf der Straße. Hedy und Sandra sind Teil der „Backstreet Guides“. Auf ihren Touren führen sie durch unterschiedliche Wiener Grätzl, bei jedem Wetter.
Hier drüben“, ruft eine Frau und winkt in ihre Richtung. Die Nachmittagssonne brennt über der Venediger Au, der Prater lärmt gedämpft herüber. Auf einer Wiese sitzen Sandra und Hedy und plaudern, als hätten sie sich hier zum Picknick verabredet. Doch für die beiden war dieser Ort früher mehr als nur ein gemütlicher Treffpunkt.
„Das war mein Wohnzimmer“, sagt Sandra, 56, mit Blick auf den kleinen Park. In ihrer Jugend schlief sie auf Dachböden im 2. Bezirk, holte sich frische Wäsche von fremden Leinen und nutzte den Supermarkt ums Eck als Kühlschrank. Heute führt sie Touren durch genau dieses Grätzl. Sie und Hedy sind Teil der „Backstreet Guides“ – ein selbstverwalteter Verein ehemals wohnungsloser Menschen, die Wien aus ihrer Perspektive zeigen.
Keine Alternativen
Was viele auf den Touren erstaunt: Wetter spielt auf der Straße kaum eine Rolle – nicht, weil es egal wäre, sondern weil es keine Alternativen gibt. „Bei 35 Grad Pause machen? Wo denn?“, fragt Sandra. Die Klimaextreme machen das Leben auf der Straße härter als je zuvor. „Garagen, die leer stehen, wären perfekt zum Abkühlen. Aber die gehören Autos, nicht Menschen.“
Städtische Infrastrukturen reagieren laut den beiden zu wenig auf diese klimabedingten Notlagen. Und das, obwohl Sandra und Hedy häufig als Expertinnen zu Konferenzen und Workshops eingeladen werden. Sie sprechen mit Studierenden der Stadtplanung und beraten Organisationen. Dabei fehle es oft nicht an Ideen, sondern an inklusiver Umsetzung. Wien sei zwar besser aufgestellt als andere Bundesländer, „aber das ist ein Lob auf niedrigem Niveau“, sagt Hedy.
Housing First
Ein Modell, das Sandra und Hedy unterstützen, ist Housing First (siehe Infokasten unten). Ein Ansatz, der zuerst auf sichere Wohnverhältnisse setzt, bevor andere Probleme angegangen werden. Statt lange durch Notunterkünfte und bürokratische Hürden zu irren, erhalten Betroffene direkt eine eigene Wohnung mit Mietvertrag – auf Wunsch mit sozialer Begleitung.
Gerade für Frauen in verdeckter Wohnungslosigkeit ist das ein niederschwelliger Weg zurück in die Stabilität. „Das klingt vielleicht einfach“, sagt Hedy, „aber eine Tür, die man hinter sich schließen kann, verändert alles und hilft direkt.“
Die Touren der Backstreet Guides sind politische Spaziergänge, persönliche Erzählungen und schonungslose Analysen urbaner Realität. Hedy nennt obdachlose Menschen „Nachhaltigkeitskünstler:innen“. Wer kein Zuhause hat weiß, wie man mit wenig Ressourcen auskommt. „Wir leben minimalistisch, weil wir müssen. Das ist gelebter Umweltschutz.“ Auch heute führen sie ihre Touren bei jedem Wind und Wetter. „Das ist kein Showelement, das war unsere Realität.“
Sandra hatte lange nicht die Kraft dazu, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Jetzt erzählt sie ihre Geschichte öffentlich, weil sie zeigen will, dass Armut jeden treffen kann. Dass Stadtplanung Menschen braucht, nicht nur Gebäude. Und dass selbst eine Wiese in der Venediger Au ein Zuhause sein kann – nur eben ohne Dach.
Backstreet Guides
Die Backstreet Guides bieten geführte Touren durch verschiedene Wiener Bezirke an. Die Teilnahme erfolgt auf Spendenbasis. Buchungen und Infos: https://backstreet-guides.at
Housing First
So funktioniert Housing First:
- Betroffene erhalten eine Wohnung mit Mietvertrag – ohne Vorbedingungen.
- Unterstützungsangebote wie psychologische Betreuung oder Suchthilfe stehen auf Wunsch zur Verfügung, sind aber keine Voraussetzung für den Er- bzw. Behalt der Wohnung.
Warum Housing First wichtig ist:
- Verhindert den Abstieg in die Langzeitobdachlosigkeit bzw. hilft betroffenen Menschen aus dieser heraus.
- Setzt das Menschenrecht auf Wohnen aktiv um.
- Effektiver, hilfreicher und kostengünstiger als alternative Hilfsangebote für obdach- und wohnungslose Menschen.
Die neue Bundesregierung bekennt sich in ihrem Regierungsprogramm klar zum Housing-First-Prinzip. Es wird heute in mehreren Bundesländern erfolgreich praktiziert. Knapp 1.900 Menschen konnten dadurch bereits in eine eigene Wohnung ziehen (Stand: Herbst 2024).