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dpa

„Die Daseinsvorsorge ist nicht Amazon“

Richard David Precht ist einer der populärsten Philosophen unserer Zeit. younited-Redakteur Marcus Eibensteiner sprach mit ihm über die Daseinsvorsorge, das Schnäppchen-Rennen im Turbokapitalismus und die fehlende Erbschaftssteuer.

younited:  Viele unserer Mitglieder bekommen tagtäglich eine allgemeine Entwicklung zu spüren, die sie in ihrem Buch „Von der Pflicht“ beschreiben. Der Staat wird nur noch als Dienstleister gesehen. Jeder will nur noch das Beste für sich. Wenn er es nicht bekommt, kann er sogar aggressiv werden. Muss zum Beispiel die Daseinsvorsorge tatsächlich wie Amazon funktionieren?

Precht: Nein, muss sie nicht. Die Leute müssen lernen, was der Unterschied zwischen dem Staat und einem privaten Dienstleister, mit dem sie einen Vertrag haben, ist. Und dass sie das nicht gleich- setzen können.

"Der Staat fordert ja nicht viel von einem"

Richard David Precht über die heutige Rolle des Staates

younited:  Wann hat die Abweichung von diesem Staatsbild stattgefunden? Und warum? Wie kann man das wieder zurechtrücken?

Precht: Der Staat fordert ja nicht viel von einem. Wir müssen Steuern zahlen und uns an die Gesetze halten. Aber der Staat tritt, und das ist ja eine gute Entwicklung, nicht mehr allzu oft und allzu stark als Autorität in unser Leben.
Auf der anderen Seite hat sich die Kundenmentalität natürlich enorm entwickelt. Früher gab es viele Dinge, die nicht dem freien Markt oblagen. Telefonanbieter waren staatlich geregelt, da gab es Monopolisten – heute muss man überall schauen, wo finde ich den richtigen Dienstleister passend zu meinem Leben oder meiner Geldbörse. Und wenn man dann darüber hinaus noch sieht, dass die Preispolitik flexibel geworden ist, dass man also bessere Tarife ergattern kann, und Vorteile für sich herausholen kann, die der Nachbar vielleicht nicht hat, dann schafft das natürlich eine bestimmte Mentalität. Dieses ‚Wo bekomme ich das Meiste für mein Geld?‘ oder ‚Wo kann ich das Meiste abzocken, oder gewinnen?‘ ist Mentalität geworden. Darüber darf man sich nicht wundern. Das ist die Folge des Turbokapitalismus.

„Eine große Einübung in Entsolidarisierung“

younited: Das ist gut analysiert, aber was ist die Lösung? Wir stecken ja jetzt in diesem Dilemma und haben dieses Denken in der Bevölkerung.

Precht: Da gibt es ganz viele Dinge. Zum Beispiel kann man darüber nachzudenken, ob - wie zum Beispiel in Deutschland - die ‚Deutsche Bahn‘ eine entsprechende flexible Preispolitik macht, wie das private Anbieter machen. Oder eine Luftfahrtgesellschaft, wie die Lufthansa, die ohne Unterstützung des Staates nicht leben kann. Warum benehmen die sich eigentlich so, darüber sollte man ernsthaft nachdenken.

"Die eigenen Vorteile gehen auf Kosten anderer."

Richard David Precht zur Schnäppchen-Mentalität

younited: Noch dazu geht diese Schnäppchen-Mentalität ja meistens auf Kosten anderer.

Precht: Ja, das ist die Kehrseite der flexiblen Preispolitik. Die eigenen Vorteile gehen auf Kosten anderer. Die Leute machen das auch, weil sie im Zweifelsfall lieber die Bösen sind, als die Dummen. Es macht einem auch gar nichts aus, dass man im Flugzeug fliegt, dass gar nicht fliegen könnte, wenn alle so einen günstigen Preis geschossen hätten, wie man selbst. Das ist eine große Einübung in Entsolidarisierung.

younited: Selbst wenn staatliche Unternehmen aufhören bei diesem Schnäppchen-Rennen mitzuspielen, wird sich nicht so schnell etwas ändern, oder?

Precht: Nein, ich habe ja auch den Vorschlag gemacht, zwei Gesellschaftsjahre einzuführen. Eines nach der Schule, eines zum Beginn der Rente. Die Leute sollen dadurch wieder das Gefühl bekommen, dass man dem Staat auch etwas geben kann. Denn der Staat ist ja nicht irgendein feindlicher Gegner, der Staat das sind ja alle. Das Gemeinwesen kann durch diese Gesellschaftsjahre verstärkt werden. Das ist wahrscheinlich sehr, sehr wirkungsvoll.

„Kindern werden wenig Grenzen gesetzt“

younited: Viele unserer Mitglieder berichten, dass der Respekt komplett verloren gegangen ist.

"Der allgemeine Respekt lässt nach, wir haben einen Autoritätsverfall"

Richard David Precht über dem Umgang miteinander

Precht: Der allgemeine Respekt lässt nach, wir haben einen Autoritätsverfall. Das ist bis zu einem gewissen Grad gut, wenn man mal zurück denkt ans alte Preußentum, oder ans dritte Reich, wo die Leute ja ständig Angst vor Autoritäten haben mussten. Nur wenn die Leute überhaupt keinen Respekt mehr gegenüber Autoritäten haben, ist das natürlich auch keine großartige Entwicklung.

younited: Was kann man dagegen unternehmen? Das Ganze führt ja schon so weit, dass selbst Rettungskräfte beschimpft werden, wenn sie bei einem Einsatz die Straße blockieren, weil sie einem Schwerverletzten helfen.

Precht: Es wächst ja auch eine Generation von Kindern heran, denen man sehr wenig Grenzen setzt. Die immer gefragt werden was sie wollen. Willst du lieber Bananenbrei oder willst du lieber Schokoladebrei? Die sind es gar nicht mehr gewohnt ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustecken. Das ist eine entsprechende Folge der freiheitlichen Gesellschaft. Und ich denke, dass diese beiden Gesellschaftsjahre da ganz guten Dienst tun können. Man kann das nicht von einem Schlag auf den anderen völlig ändern, das ist ja vollkommen klar. Die Reise geht in die Richtung, man kann nur versuchen sich zu bremsen.

younited: Im Grunde beruht das alles auf tiefergreifenden Zusammenhängen, die ja stark mit unserem ungezügelten Kapitalismus zu tun hat.

"Der Kapitalismus ist bis auf die Unterwäsche unseres Bewusstseins vorgedrungen"

Richard David Precht über unser Denken

Precht: Der Kapitalismus hat ja nicht nur Markennamen auf unsere Wäsche gestanzt, sondern ist bis auf die feinste Unterwäsche unseres Bewusstseins vorgedrungen. Er hat unsere Staatsbürgerschaft gelöscht und uns zu Konsumenten gemacht. Sie werden jeden Tag als User und Konsument angesprochen, aber kaum als Staatsbürger. Das sind die Leute gar nicht mehr gewöhnt, als Staatsbürger angesprochen zu werden, außer man sagt ihnen ‚Geh doch wählen‘.

„So stelle ich mir die Hölle vor“

younited: Es spielt also auch die Politik eine große Rolle?

Precht: Ja. Wir haben Politiker, die bei Wahlen immer etwas versprechen. Die wirklich großen Probleme werden so gut wie nicht angesprochen. Die Politiker müssen ihre Wähler ständig umschmeicheln. Sie benehmen sich tatsächlich wie Konzerne auf Kundenfang. Sie schenken keinen reinen Wein ein und sagen nur die netten Sachen.

younited: Vielleicht wollen die Leute die Wahrheit gar nicht hören?

Precht: Das glaube ich gar nicht. Ich glaube, wenn ein Politiker den Leuten klar machen würde, dass unser Lebensstandard auf unsere gewohnte Art und Weise gar nicht weiter gehen kann, weil die Erde dann relativ bald kaputt ist und das auch glaubwürdig rüberbringt, würde das schon funktionieren. Er muss aber auch diejenigen entzaubern, die sich nicht trauen darüber zu reden. Aber dafür muss man eine starke Persönlichkeit sein. Aber so eine Persönlichkeit haben wir im Moment nicht.

younited: Da müssten sie ins Rennen steigen, Herr Precht.

"So stelle ich mir die Hölle vor"

Richard David Precht über einen möglichen Einstieg in die Politik

Precht: Ja, so stelle ich mir die Hölle vor. Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, was das bedeutet, einer Partei vorzustehen. Wenn man sich ansieht, welchen Schmutzkampagnen jeder Politiker ausgesetzt ist. Wir haben eine völlig verkommene Kultur was das anbelangt.

younited: Selbst das Privatleben ist ja nicht mehr tabu. Wobei da auch viel gesteuert wird. Zum Beispiel vermarkten Politiker selbst ihre Babys.

Precht: Vor 40 Jahren war das noch anders. Wenn ein Politiker damals seine Kinder vermarktet hätte, wäre das peinlich gewesen. Heute weiß er, dass er damit punkten kann.

younited: Ganz allgemein wird ja die politische Vermarktung immer mehr und die Sachargumente werden immer weniger. Das sieht man gerade in Österreich besonders stark. Und auch wir als Gewerkschaft spüren das. Wir sind auf Sachpolitik trainiert und können auch belegen, was wir sagen. Wir haben sozusagen die Realität hinter uns. Auf der anderen Seite sitzen aber immer öfter Verkaufsprofis, die mehr vermarkten als denken – und auch ganz gezielt die Gewerkschaften schlecht machen. Sehen sie als Philosoph eine Chance, dass die Gewerkschaften wieder ein anderes Bild bekommen in der Gesellschaft?

„Beim Grundeinkommen wird niemand stigmatisiert“

Precht: Das hängt ein bisschen davon ab, wie sich die Gewerkschaften entwickeln. Das Image der Gewerkschaften leidet darunter, dass man das Gefühl hat, sie sind ein Relikt aus der Arbeitsgesellschaft des 20. Jahrhunderts. Und man weiß, dass sich die Arbeitsgesellschaft im 21. Jahrhundert sehr stark verändern wird. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Gewerkschaften sich dahin reichend Gedanken darüber machen und dadurch haben sie immer was Verstaubtes an sich. Nicht, dass sie unnötig wären, aber sie kommen immer so ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Aber ich bin ich optimistisch, dass die Gewerkschaften wieder ein positiveres Image bekommen.

younited: Sie haben in der Vergangenheit die Gewerkschaften ganz konkret kritisiert. Warum?

Precht: Ich habe nicht die österreichischen Gewerkschaften kritisiert, sondern die deutschen. Sie stellen sich nicht auf die Situation ein, dass das gegenwärtige Umlagesystem kaputt geht. Sie sind auch mehrheitlich gegen ein Grundeinkommen.

younited: Besteht beim Grundeinkommen nicht die Gefahr, dass man bestimmte Gesellschaftsschichten damit absolut ins Abseits schickt?

Precht: Aber ich verstehe nicht, warum – das habe ich noch nie verstanden. In meinem Vorschlag, den ich gemacht habe, könnte man in Deutschland bis zu 20.000 Euro frei dazu verdienen zum Grundeinkommen, so das die liberale Forderung nach Flexibilität erfüllt und gleichzeitig die sozialdemokratische Forderung nach Absicherung da wäre.

„Eine Erbschaftssteuer ist notwendig“

younited: Bei uns will die Regierung selbst die Zuverdienstgrenze beim Arbeitslosengeld kürzen. Ganz allgemein werden Arbeitssuchende immer öfter stigmatisiert.

"Es ist verwunderlich, dass Österreich keine Erbschaftssteuer hat"

Richard David Precht betrachtet unser Land

Precht: Das ist ja auch ein Vorteil beim Grundeinkommen, das bekommt jeder. Da wird dann niemand stigmatisiert. Die Arbeit würde auch nicht mehr so sehr im Mittelpunkt stehen. Das wäre der ganz große Vorteil und davor haben aber die Gewerkschaften Angst, weil sie dann denken, dass sie an Bedeutung verlieren. Ich versuche auch in dem Buch, das ich jetzt schreibe zu erklären, dass das gar nicht der Fall ist.

younited: In Ihrem Buch ‚Von der Pflicht‘ haben sie geschrieben, dass die Leistungsgesellschaften dadurch zerbröckeln, dass die soziale Durchlässigkeit austrocknet, durch Vererben verkrustet und Leistung durch Erfolg ersetzt wird. Wie ist da ihr Blick auf Österreich? Bei uns gibt es keinerlei Erbschaftssteuer.

Precht: Eine Erbschaftssteuer ist notwendig. Ich wüsste nicht was man sonst machen soll, um die Fliehkräfte in der Gesellschaft aufzuhalten. Ich erwarte mir von der Erbschaftssteuer keine Wunder, aber es ist schon sehr verwunderlich, dass Österreich keine hat. Die meisten industriellen Länder haben Erbschaftssteuern. Ich kenne jetzt die speziellen Gründe nicht, warum es in Österreich keine Erbschaftssteuer gibt, aber ganz ohne wird es künftig nicht gehen. Sonst polarisiert die Gesellschaft immer stärker und wird auseinandergerissen.