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robert rubak

Franz Schuh im younited-Interview

„Die Zeit ist ein entscheidendes Disziplinierungsmittel in einer Gesellschaft“

Im Gespräch über die Zeit analysiert Schriftsteller und Philosoph Franz Schuh auch seinen mehrmonatigen Aufenthalt im Spital und erklärt den Zusammenhang von Hass und Glück anhand von Herbert Kickl.

younited: Wie viel Zeit haben wir für unser Gespräch?

Schuh: Wir haben so viel Zeit wie notwendig – bis alles gesagt ist, obwohl nie immer alles gesagt ist. Wir glauben es aber, weil wir ein Format haben, das im Vorhinein Zeit einschränkt oder im Vorhinein mit zeitlicher Begrenzung kalkuliert. Wenn – in diesem Formatrahmen – alles gesagt ist, dann können wir aufhören.

younited: Sie waren kürzlich mehr als elf Monate in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Wie haben sie da Zeit erlebt?

Schuh: Es gibt primitive – „primitiv“ im besten Sinne von „ursprünglich“ – raue, harte und unvermeidliche Einteilungen: Diese Grundeinteilungen sind Sommer, Herbst, Winter und Frühling. Wenn sie, und das gilt sowohl für Gefängnisse, für Spitäler und – man möchte es nicht glauben – auch für Schulen: Wenn Sie da drin sind, haben Sie die Chance, diese Zeiteinteilung zu vergessen. Sie merken dann nicht mehr, ob Sommer ist, Sie merken nicht mehr, ob Frühling ist, ob Herbst oder Winter. Die Jahreszeiten im Spital sind bei schwerer Krankheit eingeebnet auf die Nötigungen durch die Immobilität und durch die Tatsache, dass man in modernen Spitälern das Fenster nicht öffnen kann, weil eine durchgehende Temperaturmaschine für die gleichbleibende Temperatur sorgt. Das grundsätzliche Verständnis von Zeiträumen – den Sommer kann man zum Beispiel als Zeitraum verstehen – wird so beeinträchtigt, dass es überhaupt keine Rolle mehr spielt.

younited: Wenn Patient:innen das Zeitgefühl verloren geht, prallen dann nicht zwei Welten aufeinander? Das Gesundheitspersonal hat ein ganz anderes Zeitempfinden, arbeitet im strengen Takt.

Schuh: Das ist im Prinzip nicht anders als der grundsätzliche Umgang von Menschen miteinander, die jeweils andere, auch andere zeitliche Voraussetzungen ihrer Existenz gegeneinander oder füreinander ins Spiel bringen müssen. Mein Verhältnis zur Spitalsbürokratie und zu den Ärzten ist ironisch, also weder zustimmend noch anklagend. Das Gesundheitssystem hat für mich zwei Probleme: Das eine Problem sind die Ärzte, die fehlen, und das andere Problem sind die Ärzte, die da sind. Die grundsätzliche Vorstellung, die alle verbreiten, die immer „lösungsorientiert“ erscheinen wollen – also die Geschichten erzählen, wie wunderbar sie gelöst haben oder wie schwer etwas zu lösen ist – diese Erzählungen glaube ich prinzipiell nicht. Ich bin ein Anhänger der Panne: Die komplizierte, institutionalisierte Praxis im Spital funktioniert nie glatt. Sie funktioniert entweder überhaupt nicht, oder nur, indem sie Pannen, die im System angelegt sind, überwindet. Ungeschoren kommt niemand aus so einem System heraus. Entscheidend ist die Zeit als Dauer. Eine dauerhafte Beschädigung hängt davon ab, wie lange man festgehalten wurde. Wenn es eine kurze Zeit war, vergisst man schnell und überwindet den Schock der Krankheit, indem man ans gewohnte Leben wieder anschließt.

younited: Das heißt, sie sind auch nicht ganz unbeschädigt davongekommen?

Schuh: Im System selber wirst du gleichzeitig gerettet und geschädigt. Und wenn du rauskommst, bist du entweder gerettet und kannst das Leben weiterführen, das schon vorher war, bevor es notwendig wurde, dich aus medizinischen Gründen einzusperren. Eingesperrt trifft er auf seine Helfer.
Das Spitalspersonal hat notwendigerweise einen vollkommen anderen Zeitbegriff: Es muss schnell sein und anders reagieren als der Patient, der eh nicht anders kann, als er muss.

Das Spitalspersonal hat Arbeitsdruck und, wenn’s gut geht, hat es durch die Arbeit eine erfüllte Zeit. Beim Patienten, der nichts zu tun hat als höchstens Eingriffe zu erleiden, kann die Zeit sich zur Folter verwandeln. Das Verhältnis von Arbeit und Arbeitsunfähigkeit schafft in Krankenhäusern die absurdesten Differenzen. Im Pflegeheim gab es duschen höchstens zu Weihnachten, aber Weihnachten ist öfter. In einem Spital, in dem ich zum Glück war, zerren sie dich aus dem Bett, setzen dich auf einen fahrbaren Untersatz und schieben dich unter die Dusche und bringen dich zurück, an der Stationsrezeption vorbei, wo du den Schwestern aus dem Rollstuhl zuwinkst wie in einem Schlagerfilm der 50er-Jahre. Und das jeden Tag!

younited: Sie haben von der Zeit vor den Klinikaufenthalten gesprochen. Hatten sie da ein anderes Zeitempfinden?

Schuh: Rückblickend bin ich irgendwie rücksichtslos mit meiner Zeit umgegangen. Meine Zeit war im Wesentlichen meinem Privatleben gewidmet und dann im Laufe der Zeit immer mehr einem Arbeitsleben als Schriftsteller. Ich habe nicht auf dieses geschaut oder auf jenes geschaut, sondern ich war „monokulturell“ abhängig von meiner Schreibarbeit, wobei diese Abhängigkeit Möglichkeiten enthielt, freiwillig in sie einzusteigen oder sie sein zu lassen. Das Zwanghafte war nicht von vornherein festgelegt, sondern allmählich rutschte ich hinein, so wie man in jedes Arbeitsglück oder Unglück hineinrutschen kann. Die schriftstellerische Tätigkeit verspricht eine enorme narzisstische Bestätigung. Die Freude, die man dann hat, wenn man sich einbildet, etwas zusammengebracht zu haben, ist im besten Fall identisch mit Arbeitern, die an ihrer Arbeit hängen.

younited: Wo haben sie denn Zeit verschwendet?

Schuh: Die Zeit ist das entscheidende Disziplinierungsmittel in einer Gesellschaft, die den sogenannten „Alltag“ hat. Es gibt unter den vielen Zitaten über die Zeit auch dieses berühmte: „Die Afrikaner haben Zeit, die Europäer haben die Uhr.“ Das ist ein Zitat, das für die afrikanische Zeitauffassung und für eine Verlangsamung der Zeit, genauer: des Zeitgefühls plädiert.
Die Uhr ist das wichtigste Gerät, das uns außerdem in die Frage einführt, was denn überhaupt ein Zugang zur Zeit ist. Es gibt grundsätzlich zwei Zugänge: die messbare physikalische Zeit und die subjektiv erlebbare Zeit.
Das Abendland mit seiner technischen Modernisierung hat durch die Uhr ein Gerät, das physikalisch misst und gleichzeitig die subjektive, erfahrbare und zu erfahrende Zeit reguliert. Und auf diese Weise entsteht ein Alltag, auf den man sich verlassen kann und die Unpünktlichkeit zur Untugend erklären kann. „Subjektive Zeiterfahrung“ kann man auf das Kollektiv ausdehnen: Ein Zeitraum wird zur Epoche und „die Geschichte“ erzählt davon.
Alles, was mit Fantasiearbeit zusammenhängt, lässt sich nicht durch Zeitaufwand oder durch Zeitvergeudung zufriedenstellend disziplinieren oder entdisziplinieren. Fantasiearbeit ist eine Tätigkeit, die im Moment funktioniert, und man kann lernen, mit solchen Momenten umzugehen. Der Schriftsteller, der jeden Tag unter allen Umständen drei bis vier Stunden auch vor dem leeren Papier sitzt, ist eine bürgerliche Variante des Schriftstellerberufes. Aber er kann mit seiner Diszipliniertheit nur bis zu einem gewissen Grad seine Arbeit steuern. Man könnte den Kritikern der Gesellschaft Recht geben, wenn sie sagen, die ganze Kultur sei dazu da, über das Arbeitsleid der Massen hinwegzutäuschen. Denn Arbeitsleid entsteht durch Disziplinierung, in die einzuwilligen viel schwerer ist als in die Disziplin einer von vornherein narzisstisch befriedigenden Tätigkeit. Daher ist Skepsis geboten gegenüber dem Hochfeiern von Künstlern, weil die in Bezug zur Arbeit und zur Arbeitszeit einen gesellschaftlichen Ausnahmezustand verkörpern, mit dem man dann den Leuten einreden kann, es gibt ja Arbeit, die glücklich macht. Es ist dein Pech, mit deiner Arbeit nicht glücklich zu sein.

younited: Macht sie ihre Arbeit glücklich?

Schuh: Für mich gilt der Hauptgrundsatz: Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein. Wozu wir auf der Welt sind, weiß ich nicht. Da müsste ich den Papst fragen, oder einen Angehörigen der islamischen Religionsgemeinschaft oder einen Buddhisten. Aber die Art und Weise, sich Verbindlichkeiten, Routinen anzugewöhnen, die einem Freude machen, ist natürlich bei künstlerischen oder intellektuellen Berufen die große Hoffnung. Auch deshalb gibt es diese Verachtung für Eliten. Sie ist aber ein Problem, weil die führenden Verächter zumeist selber zur Elite gehören. Es gibt also eine elitäre Verachtung von Eliten. Und die Eliten, die in der Öffentlichkeit auftreten, denen merkt man an, wie sie identisch mit ihrem Arbeitsglück sind, wenn sie die neuesten Erkenntnisse und Maßnahmen verkünden.

younited: Herbert Kickl macht nicht den Eindruck, dass er glücklich ist.

Schuh: Kickl ist glücklich, denn eine Quelle des Glücks ist das Zerstören des Glücks anderer: die Regierung stürzen, sich auf „die Linksextremisten“ stürzen oder den sozialen Tod von Migranten herbeiwünschen. Hassen macht auf eine perverse Weise glücklich. Ich erinnere mich an Jörg Haider, der auf einem Plakat glückstrahlend neben der Inschrift zu sehen war: „Ich verspreche Euch, ich werde ausmisten in diesem Land”. Das Euch war tatsächlich großgeschrieben. Es ist ein Glücksversprechen, endlich alle einmal loszuwerden, die einen lange Zeit gedemütigt haben. Die Verachtung, die diese Leute erlebt haben, kommt bei der Rache aufs Glückskonto hinzu.

younited: Es ist kein schöner Gedanke, dass Hass glücklich macht …

Schuh: Man braucht nicht zu glauben, Glück sei ein reines Gefühl, und dass einzig und allein ein Parsifal glücklich sein kann. Glück hat auch damit zu tun, wie sehr man die negativen, teilweise asozialen Gefühle, so bündeln kann, dass für einen was rausschaut. Natürlich will man vom Hass als Glücksspender nichts wissen, weil das schon etwas Prekäres und Grausliches hat. Aber es ist schwer zu übersehen, dass das den Rächer triumphieren lässt. Und der Triumph ist ein Anzeichen, ein äußeres Anzeichen für ein inneres Glückserlebnis.

younited: Sie haben auch während der Zeit des Krankseins ein Buch geschrieben: „Lachen und Sterben“

Schuh: Das war harte Arbeit im Ausnahmezustand. Und es wäre nicht möglich gewesen, hätte ich nicht Hilfe „von außen“ gehabt. In einem Pflegeheim will keine Pflegerin und kein Pfleger einen Computer dort stehen sehen, wo man die Waschschüssel für die erbärmliche Morgenwäsche am liebsten drauflegt. Wenn man in einem Ausnahmezustand aber Dinge tut, die man sonst auch immer tut, dann hilft es den Ausnahmezustand zu ertragen.

younited: Sie schreiben auch über Suizid. War es schon kritisch?

Schuh: Nein, ich hatte keine Suizidgedanken. Ich dachte nur, lieber wäre ich tot, als alles weiter mitzumachen. Das ist der höchste Grad von Unsolidarität, die man gegenüber Ärzten und Pflegern als Patient haben kann. Aber die kennen das Problem gut. In der Intensivstation, behaupte ich, sterben nicht wenige Menschen glücklich – endlich Schluss!

younited: Die Zeit scheint sich immer schneller zu drehen …

Schuh: Dafür gibt es ein schönes Fremdwort, es lautet: Akzeleration (Beschleunigung) der Moderne. Die Veränderungen finden in „modern times“ immer schneller statt. Denke ich an meine Lebenszeit – das ist ja nahezu unfassbar, wie man in den 60er-Jahren gelebt hat. Eine Zeit, in der es keinen Computer gab, in der die Nachwirkungen der Nazizeit – allmählich endgültig fürs Erste – verblasst sind, und in der die Mobilität der Gesellschaft für die Mehrheit der Menschen nicht existiert hat. Heute fliegen sie nach Mallorca, die guten Pensionisten. Und jetzt durch diese – ich finde es eine dumme Phrase, aber sie hat etwas Wahres – durch die „digitale Transformation“ beginnen Geschwindigkeiten und Veränderungen immer heftiger zu werden. Es wird immer schneller, und es spalten sich dann Gruppen ab, die schreien: „Halt!“ Man sieht es bei der künstlichen Intelligenz, wo Leute daran mitgearbeitet haben, die plötzlich Halt sagen, weil die Lage unkontrollierbar werden könnte. Der Kontrollverlust durch diese Schnelligkeit in der Zeit ist ein Grund zur Beängstigung. Es wird allerdings nicht viel helfen. Zur menschlichen Geschichte gehört, dass – ist erst mal eine Dynamik in Gang gesetzt – man sie schwerstens, wenn überhaupt, aufhalten kann.

younited: Sie sind ein großer Fernseh-Fan. Ist das nicht Zeitverschwendung?

Schuh: Unterhaltung, sagt der Soziologe Luhmann, ist das Totschlagen überflüssiger Zeit. Zum Zeithaushalt eines erwachsenen Menschen gehört eben auch die Vergeudung von Zeit. Die Zeit unbedingt ausfüllen zu müssen, führt zu einer Pedanterie, die, wenn man es hart nimmt, lebensfeindlich ist.
Eine Zeit im Leerlauf passieren zu lassen, ist eine schöne Sache. Ich glaube auch, dass die sogenannte „Trivialkultur“, die von einigen bedeutenden Menschen gehasst wird, sehr viel enthält, was man durchaus Gedankenreichtum nennen kann.
Die Trivialkultur ist manchmal sehr nahe an der Hochkultur dran. Die Serie „Two and Half Men“ zeigt den Zynismus, der unter neoliberaler Vorherrschaft Alltag geworden ist. So wie die Werbespots haben diese Serien die Aufgabe, zu zeigen wie Menschen nach dem Ratschluss der Herrschenden sein sollten.

younited: Schauen Sie noch Two and a Half Men?

Schuh: Ja, vor allem wegen des Komikers John Cryer. Seine Komik kann man immer wieder sehen, so wie man ein Buch von Tolstoi immer wieder lesen kann.

younited: Wenn ich ihnen den Delorean aus „Zurück in die Zukunft“ borgen würde – in welche Zeit würden sie damit reisen?

Schuh: Ich will weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft. Ich würde die Zeitmaschine schnöde ins Eck stellen, dorthin, wo bei mir schon so viele Sachen stehen. Ich bin von der Gegenwart fasziniert, weil in einer anderen Zeit habe ich ja kein Leben.

Interview: Marcus Eibensteiner