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Bereit. Egal, was kommt

Beim Terroranschlag von Wien war Selina Harasta (28) die einzige Sanitäterin in der absoluten Gefahrenzone. Seither weiß sie, dass sie jeden Einsatz schafft.

„27Delta“ kam am Abend des 2.11.2020 über den Funk. Der Code für eine zentrale Wunde. Kurz davor teilte die Einsatzzentrale bereits eine „Amoklage“ in der Wiener Innenstadt mit. Einen kleinen Moment hatte Notfallsanitäterin Selina Harasta (28) Selbstzweifel. Nach nur einem Jahr im Dienst bei der Berufsrettung Wien dort hinein?

Dann hat das Funktionieren bei Selina Harasta eingesetzt. Alles, was sie über Schussverletzungen gelernt hatte, war da. Geschützt von zwei WEGA-Beamten begann Selina Harasta mit der Versorgung des ersten Opfers, einem jungen Mann an der Jerusalemstiege. Die Kugel aus dem Sturmgewehr des Typs „Zastava“ hatte schwerste innere Verletzungen bei ihm verursacht.

Klarer Kopf, ruhige Hände
Selina Harasta war die einzige Sanitäterin in der absoluten Gefahrenzone, alle anderen später eintreffenden Rettungskräfte bekamen den Befehl am Schwedenplatz zu warten.

Angst war da trotz allem keine in ihr, sagt Selina Harasta heute, als sie wie der an der Jerusalemstiege steht und im younited-Gespräch den Einsatz von damals schildert. Der Kopf war klar, die Hände völlig ruhig. Sie gab alles, auch wenn es von Anfang an nicht gut ausschaute für den 21-Jährigen.

Rauf ins Bermudadreieck
Dann senkt Selina Harasta leicht den Kopf. „Er hat nicht überlebt“, erzählt sie mit leiser Stimme. Und dass es danach sehr schnell weiterging. Ein Polizist rief ihr zu, sofort rauf ins Bermudadreieck zu kommen. „Da sind mehrere Verletzte in einem Innenhof.“

Zum ersten Mal zurück: Selina Harasta in jenem Hof, in dem sie fünf Verletzte versorgte. Zum ersten Mal seit damals ist sie wieder zurück in diesem Innenhof. Selina Harasta ringt ein bisschen mit den Worten. Sie scheint die Dimensionen anders in Erinnerung zu haben, auch den Durchgang, der in den Innenhof führt. Dann erzählt sie mit einem Durchschnaufen weiter: „20 Menschen waren hier drin, hatten sich gemeinsam verbarrikadiert. Ein paar waren im absoluten Ausnahmezustand, zogen an meiner Jacke.“

Ein Funkspruch
Selina Harasta blieb auch hier ruhig. Sie griff zum Funkgerät und schilderte die Lage. Denn eine Situation für andere in Worte zu fassen, verschafft einem selbst ein besseres Bild – und zeigt den Aufgebrachten, dass für sie erst später Zeit ist.

„Fünf Verletzte. Einer davon schwer“, gab Selina Harasta durch und begann, einen 23-Jährigen mit einer Schusswunde am Schlüsselbein zu versorgen.

Mithilfe von Polizist:innen wurde er schließlich zum Rettungsauto gebracht. „Auch auf dem Weg in den Unfallschockraum der Klinik habe ich ohne Angst funktioniert“, erzählt Selina Harasta.

Die Angst kam danach
Die Angst kam erst nach dem Einsatz, als sie sich in der Station kurz hinlegte und das Adrenalin langsam zurückging. Fragen sausten durch den Kopf: „Wo war ich da gerade? Was ist, wenn ein Terrorist auch zu mir kommt? Steht er vielleicht schon vor der Tür?“

„Ich habe mit vielen Menschen über diesen Einsatz gesprochen. Meine eigene Ausbildung zur Psychotherapie hat natürlich auch geholfen. Ich war auch schon wieder öfter fort im Bermudadreieck“, erzählt Selina Harasta heute.

Und eines weiß sie jetzt sehr genau: Sie ist für den nächsten Einsatz bereit. Egal, was kommt.

Text: Marcus Eibensteiner