INFOMAIL INTERNATIONAL 07.04.2022
Schwerpunkte der EP-Plenartagung vom 4. – 7. April 2022
Im Rahmen der von 4. – 7. April 2022 stattfindenden Plenartagung des Europäischen Parlaments stehen u. a. folgende Themen auf der Tagesordnung:
Ukraine: Schutz von Kindern und Jugendlichen auf der Flucht vor Gewalt
Debatte am Dienstag mit Rat und Kommission über mögliche EU-Maßnahmen, um Kinder, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, zu schützen, insbesondere vor Menschenhandel und Ausbeutung.
Debatte mit Michel und von der Leyen zu den Ergebnissen des EU-Gipfels im März
Am Mittwochmorgen werden die Abgeordneten mit den Präsidenten Charles Michel, Ursula von der Leyen und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell die Ergebnisse des EU-Frühjahrsgipfels erörtern.
Zwei Jahre Von-der-Leyen-Kommission: Aktuelle Fragestunde
Am Dienstag um 15:00 Uhr befragen die Abgeordneten die Kommission zu ihrer Bilanz der letzten zwei Jahre und zur Umsetzung ihrer politischen Prioritäten.
Fragestunde mit Josep Borrell zu den Sicherheits- und Verteidigungsplänen der EU
Am Dienstag werden die Abgeordneten den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zur Sicherheits- und Verteidigungsstrategie der EU für das kommende Jahrzehnt befragen.
„Green Deal“: Neue Leitlinien für transeuropäische Energieinfrastruktur
Das Parlament will aktualisierte Regeln für die Förderwürdigkeit von Energieprojekten billigen und somit die bestehende Verordnung an den Grünen Deal der EU anpassen.
Klimawandel: Debatte über beunruhigenden neuen UN-Bericht
Debatte am Montag mit Kommission und Rat über den jüngsten Bericht des Weltklimarates, in dem dringende Maßnahmen zur Begrenzung einer globalen Erwärmung auf 1,5°C gefordert werden.
„Fit für 55“: Abstimmung über Marktstabilitätsreserve für den Emissionshandel
Debatte und Abstimmung zur Verlängerung der Marktstabilitätsreserve des EU-Emissionshandelssystems, um es vor externen Schocks wie COVID-19 zu schützen.
Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen: Bilanz der EU-Reaktionen
Am Mittwochnachmittag befragen die Abgeordneten Rat und Kommission zu deren bisherigen Reaktionen auf die Rückschritte in Bezug auf die Demokratie in Ungarn und Polen.
Recht auf Reparatur: Was die Abgeordneten von der Kommission erwarten
Ein neues „Recht auf Reparatur“ muss Waren haltbarer und reparierbarer machen und eine bessere Kennzeichnung zur Verbraucher*inneninformation sowie eine Erweiterung der Garantierechte umfassen.
Situation der Frauen in Afghanistan
Nach der drastischen Verschlechterung der Frauenrechte in Afghanistan werden die Abgeordneten mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell am Dienstag die Lage in dem Land bewerten.
Europäisches Datengesetz: Förderung des EU-weiten Datenaustauschs
Das Parlament wird am Mittwoch über neue Pläne abstimmen, um Daten für Firmen oder Start-ups zugänglicher zu machen und so Innovationen zu fördern.
Weitere Themen:
· Verstöße gegen das Recht auf Asyl, auf Leben und auf Nichtzurückweisung in Griechenland – Erklärungen des Rates und der Kommission
· Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für gleiche Arbeit durch Lohntransparenz und Durchsetzungsmechanismen, Abstimmung Dienstag
· Leitlinien für den EU-Haushalt 2023 – Bericht: Nicolae Ştefănuță, Debatte und Abstimmung Dienstag
· Dringende Notwendigkeit zur Annahme der Richtlinie zur Mindestbesteuerung, Erklärung der EU-Kommission
· Der globale Ansatz für Forschung und Innovation – Europas Strategie für internationale Zusammenarbeit in einer sich verändernden Welt – Anfrage zur mündlichen Beantwortung
· Voranschlag der Einnahmen und Ausgaben des Europäischen Parlaments für das Haushaltsjahr 2023 – Bericht: Niclas Herbst
· Umsetzung von Maßnahmen der politischen Bildung – Bericht: Domènec Ruiz Devesa
· Schutz der Rechte des Kindes in zivil-, verwaltungs- und familienrechtlichen Verfahren – Bericht: Adrián Vázquez Lázara
· Die Lage ausgegrenzter Roma-Gemeinschaften in der EU – Erklärung der Kommission
Quellen:
Europäisches Parlament;
Einigung zum Gesetz über digitale Märkte – stärkere Regulierung für Amazon & Co
Die Einigung zum Gesetz über digitale Märkte legt klare Regeln für große Online-Plattformen fest. Damit soll sichergestellt werden, dass all jene, die bezüglich einer beträchtlichen Zahl von Nutzer*innen als „Gatekeeper“ fungieren, ihre Position nicht missbrauchen, um anderen Unternehmen den Zugang zu Konsument*innen zu versperren.
Am 24. März 2022 einigten sich EU-Parlament und Rat auf neue EU-Vorschriften zur Begrenzung der Marktmacht großer Online-Plattformen – sogenannter Gatekeeper. Bereits im Dezember 2020 legte die EU-Kommission einen Verordnungsvorschlag über digitale Märkte (DMA) vor, mit welchem große Online-Plattformen einer verstärkten Regulierung unterzogen werden sollen. Ziel des DMA ist es, sicherzustellen, dass die größten Tech-Konzerne ihre Marktmacht im Digitalsektor nicht missbrauchen und somit einen fairen Wettbewerb am Binnenmarkt zu gewährleisten.Als Gatekeeper gelten nach der nunmehrigen Einigung der EU-Institutionen große Unternehmen (wie z.B. Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft), welche einen Jahresumsatz von 7,5 Mrd. Euro und eine Marktkapitalisierung von 75 Mrd. Euro aufweisen. Die neuen Regeln für Gatekeeper-Plattformen umfassen Beschränkungen bei der Kombination personenbezogener Daten aus verschiedenen Quellen, Verbote zur Bündelung von Diensten und ein Verbot von Selbstbevorzugungspraktiken. Ferner sollen Vorschriften die App-Installation von Drittplattformen für Verbraucher*innen möglich machen. Die Verbraucher*innen werden auch die Möglichkeit haben, vorinstallierte Apps zu löschen.
Der neue Ansatz des DMA basiert auf einer Liste von Ge- und Verboten, der sich „Gatekeeper-Plattformen“ zu unterwerfen haben. Außerdem ermöglicht es der DMA, im Rahmen von Marktuntersuchungen durch die EU-Kommission auch zukunftsgerichtet relevante „neue“ unfaire Praktiken von Gatekeepern zu definieren und allenfalls weitere „Gatekeeper-Plattformen“ zu identifizieren. Die EU-Kommission erhält zudem Befugnisse, unrechtmäßiges Verhalten zu sanktionieren.
In den Verhandlungen setzte sich das EU-Parlament gegenüber dem Rat bezüglich der Interoperabilitätsanforderungen für Messaging-Dienste durch. Dadurch müssen sich Dienstanbieter*innen wie WhatsApp oder Facebook Messenger öffnen und mit kleineren Messaging-Plattformen zusammenarbeiten. Allerdings soll für Gruppenchats diese Anforderung erst in vier Jahren gelten. Auf die Verankerung eines ausdrücklichen allgemeinen Verbots gezielter Werbung bzw. für Minderjährige im DMA konnten sich die EU-Institution nicht einigen. Jedoch verständigten sie sich darauf, dass ein solches Verbot im Hinblick auf Minderjährige im Gesetz über digitale Dienste (DSA), welches derzeit noch verhandelt wird, festgeschrieben werden soll. Strafen für Regelverstöße können bei Erstverstößen bis zu 10 % des weltweiten Jahresumsatzes betragen, bei wiederholten Verstößen sogar bis zu 20 %. Bei systematischen Regelverstößen, das heißt mindestens dreimal in acht Jahren, kann die EU-Kommission eine Marktuntersuchung einleiten und erforderlichenfalls verhaltensbezogene oder strukturelle Abhilfemaßnahmen verhängen. Ein Verhandlungserfolg des EU-Parlaments besteht auch darin, dass Webbrowser und virtuelle Assistenten in den Umfang der Kernplattformdienste aufgenommen wurden. Die EU-Kommission als federführendes Durchsetzungsorgan der Vorschriften hat nun die Aufgabe, alle zuständigen Dienststellen mit Personal auszustatten sowie die Durchsetzung der Verpflichtungen und Verbote vorzubereiten. Der endgültige Text der Verordnung muss noch formal von EU-Parlament und Rat gebilligt werden und soll im April vorliegen. Die Umsetzung hat innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten zu erfolgen.
Begrüßenswerte Fortschritte für faireren Wettbewerb
Die aufgezählten Ge- und Verbote, welchen sich die designierten „Gatekeeper-Plattformen“ zu unterwerfen haben, sind aus AK-Sicht durchaus positiv zu bewerten, da sie einen wichtigen Schritt in Richtung fairer Wettbewerbsbedingungen darstellen und auch aus Konsument*innensicht begrüßenswert sind. Das sieht auch Thomas Kattnig, Mitglied des Bundespräsidiums der younion _ Die Daseinsgewerkschaft, so: „Die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle digitalen Unternehmen – unabhängig von deren Größe – ist ein zentrales Ziel des DMA. Durch die im Gesetz festgelegten ‚Dos’ und ‚Don‘ts’ können etwa Big-Tech-Unternehmen davon abgehalten werden, Verbraucher*innen unfaire Bedingungen aufzuerlegen. Das ist auch deshalb wichtig, weil diese Unternehmen ihre marktbeherrschende Stellung ausweiten, was sie in die Lage versetzt, Abhängigkeiten zu schaffen.“ Die Möglichkeit, im Rahmen von Marktuntersuchungen Plattformen flexibel als „Gatekeeper“ zu identifizieren bzw. neue Geschäftspraktiken in den Verbots- und Gebotskatalog aufzunehmen, ist ebenfalls positiv zu bewerten. Die Sanktionen bei systematischer Nichteinhaltung von Verpflichtungen erscheinen jedoch nicht ausreichend. Gerade die Möglichkeit des dreimaligen Regelverstoßes, bevor seitens der EU-Kommission strukturelle Maßnahmen durchgesetzt werden können, schwächt die Bedeutung dieses wichtigen Rechtsaktes. Eine wichtige AK-Forderung für den DMA war zudem, Organisationen, die sich mit Konsument*innenschutz bzw. Arbeitnehmer*inneninteressen befassen, in das „Digital Markets Advisory Committee“ aufzunehmen bzw. zumindest mit Anhörungsrechten auszustatten. „Diese Nachbesserung haben auch wir als Gewerkschaft gefordert – bedauerlicherweise wurde sie im Zuge der Einigung zum DMA nicht vorgenommen“, so Kattnig.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Gemeinsamer Brief von LobbyControl, Digitalcourage, CEO und AK zum Digital Markets Act
AK EUROPA: Richtlinie über digitale Märkte – Einigung im Binnenmarktausschuss
Quellen:
AK EUROPA (Österreichische Bundesarbeitskammer Büro Brüssel);
Pandemiebekämpfung und Patentfreigabe: Anhaltende EU-Blockade
Die EU blockiert mittlerweile seit über 17 Monaten die globale Freigabe der Produktionsrechte für Impfstoffe und Medikamente gegen COVID-19. Aus den Verhandlungen in der Welthandelsorganisation (WTO) ist nun ein Dokument durchgesickert, das weiterhin kaum Bewegungsbereitschaft der EU zeigt. AK EUROPA sowie Organisationen der Zivilgesellschaft rufen die EU neuerlich dazu auf, geistige Eigentumsrechte für COVID-19-relevante Impfstoffe, Arzneimittel und Gesundheitstechnologien auszusetzen.
Am Coronavirus starben bisher über 18 Millionen Menschen weltweit, die meisten davon in Ländern des globalen Südens. Während Anfang 2022 in Ländern mit hohem Einkommen über 70 Prozent der Bevölkerung eine vollständige Impfung hatten, waren es in den Ländern mit niedrigem Einkommen unter fünf Prozent. Der Mangel an Impfstoffen und gesundheitlicher Gleichstellung stellt somit das größte Versagen des Pandemiemanagements weltweit dar und zeigt die tiefe soziale und wirtschaftliche Zweiteilung der Welt auf.
Bereits im Oktober 2020 schlugen Indien und Südafrika innerhalb der Welthandelsorganisation vor, auf mehrere Abschnitte des „Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS)“ zu verzichten, um die Prävention, Eindämmung und Behandlung von COVID-19 zu ermöglichen. Dieser sogenannte „TRIPS-Waiver“ umfasst beispielsweise die Aussetzung von Patentrechten auf COVID-19-Impfstoffe. Damit wäre es WTO-Mitgliedstaaten möglich, TRIPS-Verpflichtungen für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Beispielsweise wären dann Länder wie etwa Südafrika oder Indien in ihrer Impfstoffproduktion vor WTO-Klagen durch reichere Staaten geschützt. Durch mehr Hersteller*innen könnten Medikamente, Impfstoffe oder sogenannte Generika die weltweite Versorgungssicherheit zu einem bezahlbaren Preis ermöglichen. Auch das EU-Parlament hatte mit einem Entschließungsantrag im Juni 2021 für den Vorschlag gestimmt und die für die EU verhandlungsführende EU-Kommission aufgerufen, den TRIPS-Waiver zu unterstützen.
Auch younion _ Die Daseinsgewerkschaft setzt sich schon lange für den TRIPS-Waiver ein: „Seit mittlerweile fast eineinhalb Jahren fordern wir zusammen mit Gewerkschaften weltweit, den TRIPS-Waiver durchzusetzen, um jedem einzelnen Menschen den Zugang zu COVID-19-Impfstoffen, Medikamenten und bestmöglicher Versorgung zu ermöglichen. Zahlreiche Regierungen unterstützen den Waiver, doch einige wenige Länder blockieren weiterhin, darunter auch die EU. Es muss endlich erkannt werden, dass eine globale Pandemie nur global bekämpft und beendet werden kann!“, sagt Thomas Kattnig, Mitglied des Bundespräsidiums der younion _ Die Daseinsgewerkschaft.
Mitte März 2022 ist ein Zwischenergebnis der Vierer-Gespräche zwischen der EU, den USA, Südafrika und Indien in der WTO an die Presse durchgesickert. Dieses fällt weit hinter den ursprünglichen Vorschlag für den TRIPS-Waiver zurück und legt einer versorgungssicheren Pharmaproduktion im globalen Süden weiter Steine in den Weg. Deswegen rufen AK EUROPA sowie weitere zivilgesellschaftliche Organisationen die EU dazu auf, „keinen unangemessenen Druck auf die Mitglieder der Welthandelsorganisation auszuüben“, dieses schlechte Verhandlungsergebnis zu unterstützen. So lautet die Einschätzung des öffentlichen Aufrufs: Die EU und die USA haben den ursprünglichen TRIPS-Waiver so sehr verwässert, dass die nun vorliegende vorläufige Einigung noch schlimmer als keine Vereinbarung wäre und daher abzulehnen ist. Laut Ärzte ohne Grenzen, Medico International u.a. handelt es sich bei der vorläufigen Einigung im Wesentlichen um eine Wiederholung bestehender, viel zu eng gefasster Ausnahmeregelungen und versäumt es somit, jene Schranken aufzuheben, die einer verstärkten Impfstoffproduktion im Weg stehen. Besonders problematisch ist zudem, dass im Gegensatz zum ursprünglichen Vorschlag nur COVID-19-Impfstoffe enthalten sein sollen – Medikamente und Testkits sollen hingegen von einer Patentfreigabe ausgeschlossen bleiben. Zudem wird die Nutzbarkeit von Patenten weiter verkompliziert, während beispielsweise die Freigabe von wichtigen Studienergebnissen zu COVID-19-Medikamenten und -Impfstoffen vom nunmehr vorliegenden Gegenvorschlag ausgespart bleibt (sog. „undisclosed information“). Problematische Zulassungskriterien könnten zudem zahlreiche Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen von der Produktion, Lieferung, Ausfuhr und Einfuhr ausschließen.
Die Gefahr von COVID-Mutationen ist global und zeigt die Notwendigkeit eines gerechten Zugangs zu Impfstoffen deutlich auf. Der globalen Kluft bei der Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten und Impfstoffen muss umso mehr mit einer weltweiten Erhöhung der Produktionskapazitäten begegnet werden. Daher wird die EU-Kommission von AK EUROPA, EGB und weiteren Zivilgesellschaftsorganisationen aufgefordert, zu den Zielen des ursprünglichen TRIPS-Waiver Vorschlags von Indien und Südafrika zurückzukehren. Die Aussetzung von Patentrechten darf nicht nur für Impfungen gelten, sondern muss auch Therapeutika und Diagnostika umfassen. Außerdem müssen die Produktionsstätten im globalen Süden ausgebaut und mittels ungehinderten Wissenstransfers gefördert werden. Nur so kann COVID-19 und zukünftigen Pandemien solidarisch begegnet werden.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: EU-Parlament fordert Patentfreigabe für Pandemiebekämpfung
AK Wien: Produktion für COVID-19-Impfstoffe im globalen Süden ausweiten
A&W Blog: Globale Impfungleichheit – Wer hat, dem wird gegeben
EGB: Brief an die Europäische Kommission zu COVID-19 Impfstoffen
IÖD: Too little, too late – We need a permanent TRIPS waiver mechanism
Quellen:
AK EUROPA (Österreichische Bundesarbeitskammer Büro Brüssel), AK Wien, Arbeit & Wirtschaft Blog, Ärzte ohne Grenzen Österreich, Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB), Europäisches Parlament, Global Policy Forum Europe, Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD), Welthandelsorganisation (WTO);
Studie: Lokale Dienstleistungen in öffentlicher Hand widerstandsfähiger und gerechter
Eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Achtung der Arbeitnehmer*innen- und Gewerkschaftsrechte der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und der wirksamen Reaktion der Kommunalverwaltungen auf öffentliche Notfälle besteht, auch während der COVID-19-Pandemie.
Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Achtung der Arbeits- und Gewerkschaftsrechte der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes auf lokaler Ebene und einer wirksamen Reaktion der lokalen Behörden auf öffentliche Notfälle, auch während der COVID-19-Pandemie. Außerdem können Städte und Regionen, die sich auf Verwaltungsmodelle stützen, welche sich in öffentlichem Besitz befinden oder von der öffentlichen Hand kontrolliert werden, besser in der Lage sein, Personal und Dienstleistungen rasch anzupassen, Prioritäten zu setzen und umzuverteilen. Daher kann die Rekommunalisierung lokaler öffentlicher Dienste eine schnelle Reaktion auf Notfälle, eine rasche Anpassung der Dienste und eine Umverteilung des Personals ermöglichen, um die kontinuierliche Bereitstellung von Diensten zu gewährleisten.
Diese Schlussfolgerungen gehören zu den politischen Erkenntnissen einer neuen Publikation, die heute von United Cities and Local Governments (UCLG), dem Weltverband der großen Metropolen (Metropolis) und LSE Cities an der London School of Economics and Political Science mit Unterstützung und unter Mitwirkung der Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD) und angeschlossenen Organisationen veröffentlicht wurde.
Vertreter*innen des Belgischen Gewerkschaftsverbandes der Lokalverwaltungen CGSP-ACOD, der die Beschäftigten in der häuslichen Pflege im interkommunalen Konsortium Welfare Care Kempen (WCK) organisiert, und des Belgischen nationalen Gewerkschaftsverbands CGSP-ACOD tauschten mit dem
Forschungsteam ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Empfehlungen aus. Sie betonten, dass die Tatsache, dass die WCK in öffentlichem Besitz steht und öffentlich verwaltet wird, der Schlüssel für eine wirksame Bewältigung der COVID-19-Pandemie war, denn so wurden Arbeitskräfte und Dienste umgeschichtet, um die Aufrechterhaltung der Pflegedienste für die gefährdetsten Menschen in der Region Kempen zu gewährleisten und gleichzeitig die Sicherheit der Arbeitnehmer*innen und Nutzer*innen sicherzustellen. Die Vertreter*innen der WCK-Leitung bestätigten die Analyse der Gewerkschaften und betonten die entscheidende Rolle eines starken, kontinuierlichen und vertrauensvollen Sozialen Dialogs mit den Arbeitnehmer*innen und ihren Gewerkschaften als weitere wichtige Erkenntnis für die künftige Krisenvorsorge.
Eric Nysmans, Direktor von Welfare Care Kempen
„Trotz seiner qualitativ hochwertigen Dienstleistungen, seiner gerechten Politik, seiner Aufmerksamkeit für schutzbedürftige Nutzer*innen und der Widerstandsfähigkeit der Dienstleistungen während COVID ist WCK derzeit mit einer drohenden Privatisierung konfrontiert, da die flämische Regierung plant, den Wohlfahrts- und Pflegesektor zu privatisieren.“
Weitere untersuchte Fälle waren die Multi-Versorgungsunternehmen Empresas Públicas de Medellin (Kolumbien) und den öffentlichen Wasserversorger Taigua in Terrassa (Spanien), der 2018 rekommunalisiert wurde. In dem Kurzbericht wurde auch auf die IAO-Leitlinien 2018 für öffentliche Notdienste, die gemeinsame Erklärung der IÖD und der UCLG im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie Starke lokale öffentliche Dienste für eine sichere Welt und auf die Public Futures Global Remunicipalisation Database verwiesen.
Weitere wichtige Ergebnisse sind u.a.:
· Die widerstandsfähigsten Anbieter waren diejenigen, die bereits über Kommunikations- und Koordinierungssysteme mit anderen Diensten und Behörden verfügten oder diese rasch einführten. Betreiber mit bereits bestehenden Praktiken des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Einrichtungen auf interkommunaler Ebene waren in der Krise im Vorteil.
· Eine etablierte Praxis des konstruktiven Sozialen Dialogs zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen des öffentlichen Dienstes auf lokaler Ebene – zusammen mit dem Vorhandensein von Tarifverhandlungsstrukturen wie Betriebs- und Branchenbetriebsrät*innen – ist der Schlüssel zu einer raschen und effektiven Fortführung der Dienstleistungen, zu Anpassungen und zur Widerstandsfähigkeit in Notfällen.
· Die Anpassungsfähigkeit eines lokalen öffentlichen Dienstes, der sich in öffentlichem Besitz befindet und von der öffentlichen Hand verwaltet wird, ist im Rahmen eines privaten, privat verwalteten oder ausgelagerten Dienstes kaum möglich, da die Verträge mit privaten Betreibern in der Regel starr sind und eher von der Kosteneffizienz als von dem grundlegenden Prinzip der Versorgung der Bedürftigsten unabhängig von deren Zahlungsfähigkeit bestimmt werden.
· Am Beispiel des öffentlichen Versorgungsunternehmens Taigua in Terrassa (Spanien) und dessen partizipativem Governance-Modell wird deutlich, dass die Rekommunalisierung ein wirksames Instrument zur Beseitigung territorialer Ungleichheiten sein kann. Darüber hinaus kann sie die Transparenz, Rechenschaftspflicht und Effektivität der Dienstleistungserbringung erhöhen und Möglichkeiten zur Demokratisierung lokaler öffentlicher Dienstleistungen bieten, indem sie die Kluft zwischen Nutzer*innen, Anbieter*innen, Behörden und Arbeitnehmer*innen verringert und die Stimmen der Einwohner*innen und Nutzer*innen in den Mittelpunkt von Notfallmaßnahmen stellt.
· Die Verantwortung für die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten wird zunehmend den subnationalen Regierungen übertragen. In den OECD-Ländern sind die lokalen und regionalen Regierungen bereits für 24,5 % der gesamten öffentlichen Gesundheitsausgaben verantwortlich; während der Pandemie stiegen diese Ausgaben um 44 % bzw. 69 %.
Policy Brief 05 „Lokale öffentliche Dienste im Krisenmodus: Anpassung von Governance-Modellen an außergewöhnliche Zeiten“ ist Teil der UCLG-Metropolis-LSE Cities Emergency Governance Initiative Serie (EGI), die darauf abzielt, die institutionellen Dimensionen von schnellem und radikalem Handeln als Reaktion auf komplexe globale Notfälle zu untersuchen. Die Publikation liefert umsetzbare Informationen, Wissen und Empfehlungen für lokale und regionale Regierungen, um sie bei der Reaktion auf komplexe Notfälle zu unterstützen.
Quellen:
Belgischer Gewerkschaftsverband der Lokalverwaltungen CGSP-ACOD, Belgischer nationaler Gewerkschaftsverband CGSP-ACOD, Empresas Públicas de Medellin, Internationale Arbeitsorganisation, Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD), LSE Cities an der London School of Economics and Political Science, Public Futures Global Database, Taigua, United Cities and Local Governments (UCLG), Welfare Care Kempen (WCK), Weltverband der großen Metropolen (Metropolis);